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Die jüdische Herkunft Edith Steins hat wenig mit den Klischees zu tun, die man nach 1945 in der hagiographischen Literatur gerne bedient hat. Edith Stein ist nicht in einer orthodox-mosaischen Sonderwelt aufgewachsen, sondern hat im Gegenteil immer die Normalität und Bürgerlichkeit ihrer Herkunft und jüdisch-religiösen Erziehung betont. Über die Familie ihrer Mutter schreibt sie, man habe ein wenig Hebräisch verstanden, „die Gebote wurden gelernt, Teile aus der Hl. Schrift gelesen, manche Psalmen (deutsch) auswendig gelernt.“[1] Auguste Stein hatte einen Stammplatz auf der Empore der Neuen Synagoge, der Hauptsynagoge der liberalen Juden in Breslau, besuchte aber auch Gottesdienste im Rabbinerseminar,[2] einer in ganz Europa bekannten Bildungseinrichtung des konservativen Judentums, in der man einen mittleren Weg zwischen Orthodoxie und Reformjudentum beschritt. Dem aufrichtigen Glauben ihrer Mutter begegnete Edith Stein zeitlebens mit größtem Respekt. Grundsätzlich gilt für die religiöse Praxis der Familie Stein jedoch, dass ebenso wie in vielen anderen jüdischen Familien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Streben nach Emanzipation und Akkulturation deutlich zu spüren war.
Die Erfahrung, dass Religion „Wurzel und Grund allen Lebens“[3] ist, machte Edith Stein erst im Christentum. Umso bedeutsamer ist es, dass sie den Empfang der Taufe im Jahr 1922 nicht als Schlussstrich, sondern als Beginn einer immer stärkeren Rückbesinnung auf ihr jüdisches Erbe verstand. Papst Johannes Paul II. (1920-2005) hat diese Dynamik später mit der Formel der „herausragenden Tochter Israels und zugleich Tochter des Karmels“[4] zum Ausdruck gebracht. Hedwig Conrad-Martius (1888-1966) interpretierte die Perspektive Edith Steins so: „Jude sein, heißt nicht nur, einem bestimmten Volk, einer bestimmten Nation angehören. Es heißt, einem Volk blutmäßig angehören, auf dem […] Gottes Hand ruht und je und je geruht hat. Einem Volk, das sich der lebendige Gott zu Seinem Volk gemacht und geprägt hat.“[5]
Diese Erkenntnis fand ihren Niederschlag auch in Edith Steins Verständnis der Heilsgeschichte und der Kirche. Vom Pariser Erzbischof Jean-Marie Lustiger (1926-2007) stammt das Wort, es sei unzureichend, Edith Stein als „Brückenbauerin“ zwischen Judentum und Christentum zu verstehen. Kardinal Lustiger befand die Brücken-Metapher für zu schwach, als dass sie das Verhältnis von Christentum und Judentum beschreiben könne. Edith Stein habe mehr getan, als nur einen Brückenschlag zu vollziehen. Sie habe „Israel innerhalb des christlichen Bewußtseins wiederverankert.“[6] Dies zeigt sich konkret, wenn Edith Stein die Kontinuität der Heilsgeschichte von Altem und Neuem Bund betont und sich scharf von den antijudaistischen Enterbungstheorien absetzt, die damals häufig vertreten wurden. So liest man bei dem bedeutenden evangelischen Theologen Erik Peterson im Jahr 1933: „Die Juden erben nichts mehr von dem, der doch allein reich ist. […] Abraham, Isaak, Jakob, sie gehören nicht mehr den Juden, sondern der Kirche.“[7] Edith Stein hingegen argumentiert in eine völlig andere Richtung. Sie ist überzeugt, dass die Kirche im Sinn des mystischen Leibes Christi größer ist als die kanonisch errichtete Körperschaft. Sie unterscheidet zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche.[8] Weiter betont Edith Stein das „stille Wirken des Heiligen Geistes“[9] schon im Blick auf die Patriarchen des Alten Testaments. Mehr noch: Gott habe sein Volk „trotz aller Untreue nicht verworfen“.[10] Damit lässt sie den theologischen Exklusivismus ihrer Zeit weit hinter sich. Bei Lichte betrachtet antizipiert Edith Stein hier theologische Überlegungen, die erst Jahrzehnte später vom Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), insbesondere der Konstitution Lumen Gentium und der Erklärung Nostra aetate, eingeholt worden sind.
Weiterführende Literatur:
[1] Edith Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, in: ESGA 1, S. 8.
[2] Dies., Ein Beitrag zur Chronik des Kölner Karmel, in: ESGA 1, S. 360.
[3] Dies., Brief an Callista Kopf v. 12. 2. 1928, in: ESGA 2, S. 86.
[4] Johannes Paul II., Homilie bei der Seligsprechung von Edith Stein im Stadion Köln-Müngersdorf, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 77 (1987) S. 32.
[5] Hedwig Conrad-Martius, Edith Stein, in: Edith Stein, Briefe an Hedwig Conrad-Martius (München 1960) S. 71.
[6] Jean-Marie Lustiger, Einführung zum Runden Tisch über Edith Stein beim Katholikentag 2006 in Saarbrücken, in: ESJ 13 (2007) S. 119.
[7] Erik Peterson, Die Kirche aus Juden und Heiden, in: ders., Ausgewählte Schriften 1 (Würzburg 1994) S. 145.
[8] Vgl. Edith Stein, Verborgenes Leben und Epiphanie, in: ESGA 20, S. 123-127.
[9] Ebd., S. 124.
[10] Dies., Vorbereitungsexerzitien für die ewigen hl. Gelübde, in: ESGA 20, S. 55.