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Nach Zürich kam Edith Stein durch die Juristin Hilde (Gibi) Vérène Borsinger (1897-1986), die sie für Januar 1932 eingeladen hatte, in 2 Wochen 2 mal je 4 Vorträge zur Frauenfrage und einen Elisabeth-Vortrag zu halten. Die beiden hatten sich in Beuron im Jahr zuvor in der Osterwoche 1931 durch die Vermittlung von P. Erich Przywara kennen gelernt.
Hilde Borsinger hat sich 1942 für Edith und Rosa Steins Rettung engagiert; sie unterstützte sie bei ihrem Asylantrag, um in den Karmel Le Paquier (Kanton Fribourg) aufgenommen zu werden; leider vergeblich.
Die Stadt Zürich und die Juristin Hilde Vérène Borsinger waren für Edith Stein mit dem Engagement für Frauenbildung verbunden. Borsinger lud Edith Stein zu Vorträgen nach Zürich ein, später erbat sie sich von Edith Stein Rezensionen der neu erscheinenden Thomas-Ausgabe.
Borsinger war Juristin, Jugendanwältin, Gründerin und Leiterin von Sozialwerken für schwererziehbare und haftentlassene Jugendliche; 1953 wurde sie in Basel als erste Frau der Schweiz Strafrichterin. Außerdem war sie Schriftleiterin der „Katholischen Schweizerin“, dem Organ des Schweizerischen katholischen Frauenbundes, in Einsiedeln. Sie geriet jedoch 1945 in Konflikt mit dem geistlichen Protektor, weil sie für das Wahlrecht der Frau eintrat.
Außerdem schrieb Borsinger ihre Doktorarbeit über „Die Rechtsstellung der Frau in der katholischen Kirche“ (Borna-Leißzig 1930) und war – nach ihrem Studium in München und Zürich an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich – zum Doktor beider Rechte promoviert. Zu dieser Arbeit äußerte sich Edith Stein gegenüber Sr. Callista Kopf am 8.8.1931: „Vérène Borsingers Dissertation halte ich als Feststellung verschütteter Tatsachen für wertvoll und würde es begrüßen, wenn sie weiter in dieser Richtung arbeiten könnte. Ihr selbst habe ich gesagt, daß es wirksamer wäre, wenn sie die Tatsachen für sich selbst sprechen ließe und auf den unsachlichen Kampfton verzichten wollte.“ (ESGA 2, Br. 169)
Die Vorträge in Zürich waren veranstaltet von der dortigen Katholischen Frauenorganisation. Auf dem Programm standen vier Vorträge unter dem Thema „Christliches Frauenleben“: „Frauenseele“, „Frauenbildung“, „Frauenwirken“ und „Frauenleben im Lichte der Ewigkeit“. Edith Stein hielt jeden der Vorträge zweimal: am 18., 20., 25. und 27.1.1931 im Kasino Aussersihl, dem Pfarrsaal von St. Peter und Paul, und am 19., 21., 26. und 28.1. im katholischen Gesellenhaus am Wolfbach. Der Sonntag, 24.1. war einer großen Elisabethfeier im großen Saal der Tonhalle in Zürich vorbehalten, bei der Edith Stein den Vortrag hielt: „Lebensgestaltung im Geist der hl. Elisabeth“ (ESGA 19, 30-43). Edith Stein wohnte während ihres Aufenthaltes in Zürich in der Dreikönigsstr. 34 bei einer der Damen des Frauenbundes.
Die vier Frauenvorträge und der Elisabethvortrag wurden von den „Neuen Zürcher Nachrichten“ am 22. u. 23.1. und am 27., 28. und 30.1. ausführlich kommentiert (durch Hildegard Schilling). Auch die Frauenzeitschrift „Die katholische Schweizerin“ (Einsiedeln) berichtete eingehend darüber.[1] Vollständig wiedergegeben sind die Vorträge „Christliches Frauenleben“ in der Zeitschrift Mädchenbildung auf christlicher Grundlage, Organ der Abteilung für höhere Mädchenbildung des Vereins katholischer deutscher Lehrerinnen und des Verbandes kath. deutscher Philologinnen.[2] Alle diese Züricher Vorträge wurden von musikalischen Darbietungen umrahmt. Der Jahresbericht der kath. Frauenorganisation 1931/32 verschweigt allerdings nicht, dass die „ausgezeichneten, von reichem Wissen und tiefen Gedanken“ geprägten Vorträge „leider das Gros unserer Frauen und Töchter nicht zu fesseln“ vermochten. „Unsere diesjährige Vortragsserie schloß mit einem materiellen Defizit von ca. Fr. 250, –“.
Edith Stein hatte Besprechungen der letzterschienenen Bände der „Deutschen Summa“ eingesandt. In der Katholischen Schweizerin, Juli-Nummer 1936, 23. Jahrgang, Nr. 10, S. 315 f. erschien die Besprechung von Bd. 27 „Christi Leben“.
Während ihrer Tätigkeit bei der Caritas Schweiz (1931-33) gründete Borsiger die Arbeitsgemeinschaft der weiblichen katholischen Jugend der dt. Schweiz (1932) und –gemeinsam mit befreundeten Schriftstellerinnen – den „Club Hrotsvith [Roswitha] – Schweizerischer Verband katholischer Frauen für Literatur, Journalistik und Kunst e. V.“ (1932), mit Sitz in Luzern. In diesen Club lud sie auch Edith Stein ein, die jedoch bereits in den Karmel eingetreten war und ihre daher antwortete: „Jedenfalls muß die arme Klosterfrau Ihre Großmut dankbar annehmen und es Ihnen überlassen, die Beiträge zu zahlen. Es wird Ihnen gewiß ein lieber Gedanke sein, daß Sie und Ihr Wirken einen Rückhalt an so einem stillen Ort des Friedens haben.“ (Br. 271, Edith Stein an Hilde V. Borsinger, 4.8.1933). Hilde Vérène Borsinger nahm das Amt der Vizepräsidentin wahr. Später änderte der Verein seinen Namen in „Club Hrotsvith – Kunst und Frau“. Benannt ist der Verein nach Hrotsvith (= Roswitha) von Gandersheim (935–1002), die als hochgebildete Nonne Dramen und Reimlegenden in lateinischer Sprache verfaßte; sie ist wohl die erste mit Namen bekannte Schriftstellerin der deutschen Literaturgeschichte (nach der Vereinszeitschrift vom Mai 1989).
Edith Stein stand außerdem in Briefkontakt mit zwei weiteren Schweizerinnen: Ida Krofitsch, Sozialarbeiterin und Sekretärin, die sie als junges Mädchen 1930 in Salzburg kennen gelernt hatte, und mit Gisela Naegeli, ebenfalls eine Sozialarbeiterin, beide aus Zürich. Eine weitere Beziehung zu Zürich bestand für Edith Stein durch ihren Vetter Richard Courant, der im Sommer 1907 in Zürich studiert hatte.
Hilde Borsinger hat sich 1942 für Edith und Rosa Steins Rettung engagiert, leider vergeblich. Am 31.12.1941 trat nämlich Edith Stein nach langer Pause wieder mit Hilde Vérène Borsinger in Kontakt (Br. 723), um von ihr einen „großen Liebesdienst“ zu erbitten. Die Situation war folgende: sie und ihre Schwester Rosa waren der „unter schwerer Strafe befohlenen“ Aufforderung gefolgt, sich bei den Behörden zur Emigration zu melden, da sie als Juden für staatenlos erklärt worden waren und in den Niederlanden nicht bleiben konnten. Nun habe sie ein Gesuch aufgesetzt, um dennoch im Karmel bleiben zu können und von der Emigrationsliste gestrichen zu werden. Falls das abgelehnt würde, bittet Edith Stein Hilde Borsinger, in Erfahrung zu bringen, „ob unter der Voraussetzung der Aufnahme in ein Kloster für uns Einreiseerlaubnis und Visum zu erhalten wären und an wen wir uns darum zu wenden hätten. Ich weiß ja, daß die Schweiz sehr dicht gegen Einwanderung abgeschlossen ist, und könnte nur denken, daß unter diesen besonderen Umständen eine Ausnahme gemacht würde. Ein anderes Land kommt ja praktisch kaum noch in Frage. Wenn wir nicht auf diese Weise hinauskommen können, werden wir jedenfalls durch die Behörden verschickt werden.“
Edith Stein berichtet in diesem Brief weiter von ihrer Schwester Frieda Tworoger, die in Schlesien in eine sogenannte „jüdische Wohngemeinschaft“ gebracht worden war, wo sie zum Arbeitsdienst gezwungen werde. Edith Stein und ihre Schwester Rosa würden sich, schrieb Edith Stein, „in ein ähnliches Los fügen, wenn es sein müßte.“ Aber ihre Vorgesetzten wollten ihnen das einerseits gern ersparen, andererseits sei sie „durch ihre Gelübde verpflichtet, alle Mittel anzuwenden, um weiter nach unserer hl. Regel leben zu können.“ „Unsere liebe Mutter Priorin würde uns am liebsten bei den Karmelitinnen vom Göttlichen Herzen (Tauscher-Schwestern) in einem ihrer Schweizer Häuser unterbringen, bis einmal eine Rückkehr möglich wird. Die Generaloberin lebt hier in Limburg, und die Anfrage an ihre Häuser in der Schweiz könnte durch sie gehen.“
Edith Stein hatte den Brief nach Einsiedeln geschickt, weil sich dort die Redaktion der Zeitschrift Die katholische Schweizerin befand, deren Schriftleiterin Hilde Borsinger war. Diese hatte jedoch ihren Wohnsitz in Luzern, und das Schreiben mußte ihr nachgeschickt werden. Am 9.4.1942 (Br. 735) schrieb Edith Stein wiederum an Borsinger, die nun in der Jubiläumsstr. 97 in Bern lebte. Sie hätte von den Karmelitinnen gehört, die Einreise in die Schweiz sei unmöglich. Außerdem wurden sie von den niederländischen Behörden in Maastricht und Amsterdam in falscher Sicherheit gewogen: „Man hat uns versichert, daß vor Kriegsende an Auswanderung nicht zu denken sei. Und was dann kommt, darauf kann man sich heute nicht vorbereiten. Wir führen also unser Leben ruhig weiter und überlassen die Zukunft dem, der allein darüber Bescheid weiß.“
Im Br. 764 (3.8.1942), Edith Stein war tags zuvor gemeinsam mit ihrer Schwester Rosa aus dem Karmel Echt ins Lager Westerbork verschleppt worden, schrieb Hilde Vérène Borsinger, die in dieser Zeit in Riffelalp bei Zermatt weilte, die positive Nachricht, dass Edith Stein „im Carmel von Le Paquier Aufnahme finden“ könne, ihre Schwester im Carmel von Seedorf. Von Seiten der Kirche und des Ordens gab es Anfang August also keine Hindernisse mehr: „Wir freuen uns alle, die Sie kennen und die Sie nicht kennen, aber von Ihnen gehört oder gelesen haben, sehr.“
10 Tage nach Edith Steins Tod, am 19.8.1942 (Br. 773) schrieb Marie-Agnès de Wolff1 aus dem Karmel Le Paquier an die Echter Priorin Sr. Antonia Engelmann ihr tiefes Bedauern über den traurigen Bericht, dass die beiden Schwestern deportiert worden seien. „Unsere täglichen Gebete begleiten die beiden armen Schwestern im fernen Osten. Wir freuten uns alle so sehr auf ihr Kommen, und es ist uns zumute, als ob wir von einem uns schon liebgewordenen Menschen getrennt worden wären.“ Noch immer hat sie Hoffnung: „Die Fremdenpolizei hatte zwar in ihrem letzten Schreiben den Eintritt in die Schweiz entschieden verweigert. Wir hatten aber inzwischen den Besuch unseres Bundespräsidenten und haben ihm in unserem Dankesschreiben für den Besuch auch diese Angelegenheit sehr ans Herz gelegt und hoffen, auf diplomatischem Weg die Bewilligung zu erreichen. […] – Wir haben Ihre Karte an Frl. Dr. Borsinger weitergeleitet mit der Bitte, trotz allem die Verhandlungen nicht aufzugeben.“
Die Verhandlungen waren tatsächlich erfolgreich, so dass das Schweizerische Konsulat am 9.9.1942 (Br. 776 und Br. 777), 4 Wochen nach Edith und Rosa Steins Tod, die Visa für Rosa und Edith Stein bewilligte. Die Bedingungen waren jedoch unerfüllbar, selbst wenn Edith Stein noch am Leben gewesen wäre: Sie und ihre Schwester Rosa hätten gültige Reisepapiere benötigt, die es jedoch für „Nichtarier“ in den Niederlanden nicht mehr gab. Und sie hätten die Grenzübergangsstelle Basel DRB (Deutscher Reichsbahnhof) passieren müssen, wozu sie in Deutschland hätten einreisen müssen – auch das war zu diesem Zeitpunkt unmöglich.
Amata Neyer (1923-2019), ergänzt durch Beate Beckmann-Zöller (2020)
[1] In Nr. 9 vom 28. Januar 1932 (19. Jg.).
[2] 28. Jg., 6. Heft v. 20.3. und 7. Heft v. 5.4.1932 (ESGA 13, 79–114).