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„… ein bißchen von Paris kennenlernen und viel für mein Scholastikstudium profitieren“, das waren Edith Steins Ziele auf ihrer Reise, die sie anlässlich der Arbeitstagung über „Phänomenologie und ihre Beziehungen zum Thomismus“ nach Juvisy-sur-Orge (in der Nähe von Paris) führte. (ESGA 2, Br. 216, 28.8.1932)
Während dieser Tage (Mittwoch 7.9. bis Samstag 17.9.1932) wohnte Edith Stein bei Alexandre Koyré und seiner Frau Dorothée, 2 rue de Navarre, Paris, 5. Arrondissement. Sie bewältigte ein strammes Touristen-Programm, u.a. Notre Dame, Sainte Chapelle, Louvre, Sacré Coeur auf dem Montmatre, eine Fahrt auf der Seine und der unabdingbare Spaziergang im Bois de Bologne. Auf der Tagung in Juvisy, die am Montag, den 12.9. stattfand und von der Société Thomiste veranstaltet wurde, mischte sich Edith Stein – als einzige Frau – rege in die Diskussion ein …
Edith Stein hatte als Kennerin der Phänomenologie Husserls eine Brücke zur Scholastik versucht zu schlagen (in Husserls Jahrbuch 1929, ESGA 9) und erhielt daher eine persönliche Einladung zur Tagung der Société Thomiste über Phänomenologie und Thomismus. Sie versprach sich davon „manche Anregung“ für ihr Scholastikstudium (ESGA 2, Br. 211, 8.7.1932, Br. 216, 28.8.1932). Am 2.8.1932 wurde ihre Anmeldung bestätigt und das Tagungsprogramm zugesandt (ESGA 2, Br. 213).
Die Dominikaner besaßen in Juvisy ein großes Studienkolleg, in dessen Räumen die Tagung stattfand; auch der Verlag, der die Tagung publizierte, war dort angesiedelt. Außer Edith Stein waren folgende deutsche Philosophen geladen: Daniel Feuling OSB (Salzburg), Alois Mager OSB (Salzburg, sie kannte ihn aus Beuron), Fritz-Joachim v. Rintelen (München), Bernhard Rosenmöller (Münster, der ihr ebenfalls bekannt war) und Gottlieb Söhngen (Bonn). Unter den Referenten waren als einzige Deutsch-sprachige Daniel Feuling und Msgr. L. Noel (Louvain), die jedoch ihre Referate in französischer Sprache vortrugen. Wichtige weitere Teilnehmer waren u.a. Jacques Maritain, der Vize-Präsident der Gesellschaft, den Edith Stein später in seinem Haus in Meudon besuchte, und Étienne Gilson, mit dem sie ebenfalls nach der Tagung noch zusammentraf. Auch ihr Gastgeber Koyré war unter den Teilnehmern.
Edith Stein war die einzige Frau unter den geladenen Gelehrten und beteiligte sich rege an den Diskussionen, die auf die Vorträge folgten. Im Bulletin Thomiste erschien eine ausführliche Wiedergabe der Tagung; die Referate und Diskussionsbeiträge wurden unter dem Titel La phénoménologie. Journeés d’Études de la Société Thomiste 1932 in Paris bei Edition du Cerf, dem Verlag der Dominikaner, publiziert. Edith Steins Beiträge befinden sich in ESGA 9, 162-167; alle deutschen, nicht nur Edith Steins Diskussionsbeiträge sind veröffentlicht in ESJ 2008, 28-42. Daniel Feuling schickte den Tagungsbericht auch an Husserl, der ihn am 30.3.1933 in einem ausführlichen Brief kommentierte und auch Kritik an Edith Steins Diskussionsbeiträgen anführte (ESJ 2008, S. 45-48, bes. 47).
Neben dem philosophischen Gewinn, den Edith Stein aus dieser Tagung und den folgenden Begegnungen zog, kann man auch von einem wichtigen kulturellen Erlebnis für sie sprechen. Zu ihren Zeiten war es noch nicht üblich, Urlaubsreisen zu unternehmen, so dass sie diese Gelegenheit gern wahrnahm. Um die Zeit und die Strecke effektiv für kulturelle Sehenswürdigkeiten und menschliche Begegnungen nutzen zu können, nahm Edith Stein nicht den direkten Weg, sondern legte Zwischenstationen auf der Reise nach Paris ein: Sie verließ Breslau mit dem Nachtzug am 3.9.1932 und machte Halt in Würzburg, Heidelberg / Kloster Neuburg und Straßburg, bis sie am Mittwoch, 7.9. in Paris ankam.
Edith Stein übernachtete bei Alexandre Koyré und seiner Frau Dorothée geb. Rybermann in Paris V, 2, Rue Navarre (ESJ 12, 2008, 48; ESGA 4, Br. 154). Wie Edith Stein auch hatte Koyré bei Husserl in Göttingen studiert. Später hatte sie ihn häufig im „Phänomenologenheim“ der Familie Conrad in Bad Bergzabern getroffen, auch in Freiburg zu Husserls 70. Geburtstag 1929, dann in Münster am 26.5.1932 (ESGA 4, Br. 154).
Edith Stein hatte gemeinsam mit Hedwig Conrad-Martius sein Werk Descartes und die Scholastik (ESGA 25) übersetzt. Der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré (1892-1964) stammte aus Odessa, war Lehrbeauftragter an den Universitäten in Montpellier, Paris, Kairo und wieder in Paris. 1932 arbeitete er an der Sorbonne.
Auf einem Notizzettel[1] vermerkte Edith Stein eine größere Zahl von Sehenswürdigkeiten in Paris, die sie wohl mit Koyré besucht hat. Auf diese Weise lässt sich ihr Touristen-Programm nachvollziehen und es wird möglich, eine Besichtigung von Paris auf den Spuren der heiligen Philosophin zu unternehmen:
Zuerst war sie am Donnerstag, den 8.9., in der Kirche St. Etienne-du-Mont, in der die hl. Genovefa verehrt wird, die Patronin von Paris. Danach ging es zum Place de la Concorde und zum Grabmal des unbekannten Soldaten unter dem Arc de Triomphe. Außerdem besuchte sie das „Panthéon français“, das nach den Plänen des Architekten Jacques-Germain Soufflot (1713-1780) als Kirche der Nationalheiligen Genovefa geplant war, dann aber als „église catholique au temple républicain“ umgewidmet wurde und jetzt als Begräbnisstätte für wichtige Persönlichkeiten Frankreichs dient.
Am Freitag, den 9.9., stand für Edith Stein „Saint-Germain-des-Prés“ auf dem Programm, die Kirche, die dem hl. Bischof Germanus gewidmet ist und in der René Descartes beigesetzt wurde. Da sie Koyrés Arbeit über Descartes und die Scholastik (ESGA 25) übersetzt hatte, ein würdiges Ziel für einen gemeinsamen Besuch. Das nächste Ziel war „St. Sulpice“, die Kirche, nach der die Gemeinschaft der Sulpizianer benannt ist, die von Jean-Jacques Olier (1608-1657) gegründet worden war und heute eine Gemeinschaft des Apostolischen Lebens (weder Orden noch Säkularinstitut) ist. Sie war ebenso wie der Pariser Karmel stark von Kardinal Pierre de Bérulle beeinflusst – später wird sich Edith Stein näher mit ihm befassen, nämlich in ihrer Übersetzung von Henri Bremonds Die selige Madame Acarie und der teresianische Karmel (ESGA 28, 111-192). Ein weiterer Ausflugsort war der Jardin du Luxembourg, dann die „Place Vendôme“, einer der prächtigsten Plätze von Paris. Was Edith Stein jeweils von dort an Eindrücken mitgenommen hat, dazu gibt es leider keine persönlichen Bemerkungen in ihren erhaltenen Briefen.
Am Samstag, den 10.9., fuhr sie nach Juvisy-sur-Orge hinaus, um P. Daniel Feuling ein versprochenes Manuskript zu überbringen. Sie hatte ihn auf der Hinreise in Heidelberg in der Abtei Neuburg zufällig getroffen und Feuling hatte sie um Hilfe gebeten. Er benötigte einen Aufsatz von Koyré, damit er die französische philosophische Ausdrucksweise zur Methode der Phänomenologie kennen lernen konnte; er sollte ja auf Französisch referieren.
Da er selbst von Juvisy aus keine Möglichkeit hatte, sich den Aufsatz zu beschaffen, war sie so freundlich, ihm das Gewünschte zu bringen, so dass er am Sonntag vor der Tagung sein Referat « Le Mouvement phénomélogique : position historique, ideées directrices, types principaux » in : La phénoménologie. Journées d’études de la société thomiste, Juvisy 1932 nochmals auf die korrekte Übersetzung überprüfen konnte, wie er dankbar in seinem Bericht an den Kölner Karmel vermerkt. (ESJ 2006, 15-22, 17)
Die Notiz für diesen Tag lautet „Boulevard St. Michel – Juvisy (P. Daniel)“. Am Boulevard St. Michel liegt die Metro-Station St. Michel, die der Sorbonne, dem Arbeitsplatz von Koyré, nahe gelegen ist. Evtl. hat Edith Stein am Vormittag dort mit Koyré einen Treffpunkt ausgemacht, bevor sie mit dem Zug nach Juvisy fuhr; denn P. Daniel Feuling berichtet von einem Treffen am Nachmittag dort draußen.
Für Sonntag, den 11.9., sind mehrere Sehenswürdigkeiten vermerkt, u.a. Notre Dame, Sainte Chapelle, eine Fahrt auf der Seine bis Suresnes, und ein Spaziergang im gegenüber liegenden Bois de Bologne. Die Arbeits-Tagung, wegen der Edith Stein nach Paris gekommen war, fand dann am Montag, den 12.9., statt (s.o.).
Am Dienstag, den 13.9. wurde der Louvre besucht, „Salle grecque, David, Corot“ hatte Edith Stein notiert. Mit „David“ könnte sie Jacques-Louis David (1748-1825) gemeint haben, einen französischen Historienmaler des Klassizismus. Welche Bilder sie von Camille Corot (1796-1875), bekannt für seine Landschaftsmalerei, angesehen hat, wissen wir leider ebenso wenig wie hinsichtlich von David. Am selben Tag scheint sie auch die Nationalbibliothek und den Invalidendom besucht zu haben.
Am Nachmittag war sie mit Daniel Feuling und Koyré in „philosophischen Beratungen“. „Wir saßen stundenlang beisammen“, schrieb Feuling (ESJ 2006, 16-22, hier 18). Gemeinsam besuchten die drei Philosophen noch Sacré-Coeur auf dem Montmatre, wo sie länger im Gebet verweilten, wie P. Daniel berichtete.
Er erinnert sich, dass Stein und Koyré an diesem Nachmittag immer wieder von jüdischen Philosophen sprachen als „auch der ist einer der Unsrigen“. Das stieß ihm negativ auf; er schreibt: „Ich erlebte stark die Blutsgemeinschaft, die so lebendig auch in Edith war: wie einst im hl. Paulus, der mit Stolz und Nachdruck sein: „Hebraei sunt – et ego! Sie sind Hebräer – ich bin es auch!“ sagte (2 Kor 11,22). Da wurde ich ein wenig boshaft und frug mit ernster Miene: ‚Ja, wohin tun Sie beide denn mich?‘ Ganz betroffen schauten sie mich an und frugen: ‚ja, sind Sie denn auch von uns?‘ Bis ich sie beruhigte und ihnen anderen Bescheid gab.“ (ESJ 2007, S. 18)
Am Mittwoch, den 14.9., standen die neoklassizistischen Kirchen St. Madeleine, St. Augustin und nochmals Sacré Coeur auf dem Programm. Den Abend verbrachte Edith Stein gemeinsam mit Koyré und wiederum P. Daniel Feuling gemeinsam beim Philosophen Émile Meyerson, einem Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker, der auch mit Husserl befreundet war. „Edith Stein hatte die Last dieser Stunde zu tragen und Rede und Antwort zu stehen“, so Feuling.
Am Donnerstag, den 15.9., traf sie Bernhard Rosenmöller[2], mit dem sie in Münster bereits bekannt war, und Jacques Maritain, die beide auch in Juvisy mitgearbeitet hatten; Maritain war sogar Präsident der Tagung. Maritain wohnte mit seiner Frau Raïssa, geb. Oumançoff (1883-1960), und seiner Schwägerin Vera Oumançoff (1886-1959) in Meudon in der Rue du Parc 10.
Edith Stein schrieb am 5.11.1932 an Jacques Maritain: „Ich denke mit großer Freude an den schönen Tag in Juvisy und die Stunden in Ihrem Hause zurück.“
Jacques Maritain (1882-1973) war Schüler von Henri Bergson und gilt als bedeutender Vertreter des Neuthomismus und der katholischen Erneuerungsbewegung in Frankreich. Raïssa und Vera Oumançoff sind in Russland in einer jüdischen Familie geboren. Die Eltern wanderten mit ihren Töchtern nach Frankreich aus, damit sie eine gute intellektuelle Ausbildung bekommen. Raïssa und Jacques trafen sich an der Sorbonne. Beide jungen Studenten suchten leidenschaftlich nach der Wahrheit und wollten sich das Leben nehmen, sollten sie sie nicht finden. Am 11.6.1906 wurden Jacques, Raïssa und Vera in der katholischen Kirche getauft; Jacques war zuvor Protestant. Beide hatten lebhafte Beziehungen zu vielen Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern, Philosophen und Theologen, u.a. Marc Chagall, Léon Bloy, Charles Péguy, Jean Cocteau, Max Jacob, Henry Bergson, Charles Journet, Paul VI…[3]
1914 wurde Maritain Professor am Institut Catholique in Paris. In den Zeiten der deutschen Besatzung ging er 1940–1944 nach Kanada ins Exil, da seine Frau und seine Schwägerin gebürtige Jüdinnen waren. Er lehrte in Toronto / Kanada, an der Princeton University in Princeton, New Jersey, und an der Columbia University in New York City.
Nach dem Krieg war Maritain 1945–1948 französischer Botschafter beim Hl. Stuhl und kehrte danach wieder zu seiner Professur in Princeton zurück, wo er als emeritierter Professor bis 1960 lehrte und dann nach Frankreich zurückkehrte. Nach dem Tod seiner Frau trat er in die Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu des Charles de Foucauld in Toulouse ein.
Der Besuch bei ihm beeindruckte Edith Stein stark, so dass sie – auch aus fachlichen Gründen – weiter mit ihm in brieflicher Verbindung blieb: Br. 228 (6.11.1932); Br. 263 (21.6.1933); Br. 354 (19.12.1934); Br. 449 (16.4.1936).
Maritain übersandte Edith Stein sein Werk Distinguer pour unir ou Les degrés du savoir, Desclée de Brouwer, Paris 1932. Dieses Exemplar mit der persönlichen Widmung: „Mademoiselle Edith Stein hommage de respectueuse sympathie“ (Übersetzung: „Fräulein Edith Stein mit respektvoller Zuneigung gewidmet“) befindet sich im Nachlass im Edith-Stein-Archiv, Köln.
Der Freitag, 16.7., war mit weiteren Besichtigungen ausgefüllt: Edith Stein besuchte Saint-Germain-en-Laye, einen Ausflugsort 20 km von Paris mit dem Schloss, in dem 1638 der Sonnenkönig Ludwig XIV. geboren wurde. Es gab dort auch Beziehungen zu Beuron: Der Maler Willibrod Verkade OSB von Beuron war mit Maurice Denis (1870-1943) befreundet, einem Maler aus diesem Ort.
Des weiteren fand an diesem Tag ein Treffen mit Étienne Gilson (1884-1978) statt, Philosoph und wie Maritain Schüler von Henri Bergson. Von 1921-1932 war er Professor für Geschichte der Philosophie an der Sorbonne in Paris, wie Koyré; zuvor lehrte er ab 1913 als Philosoph in Lille und Straßburg, und ab 1932 am Collège de France. Sowohl in Harvard als auch in Toronto gab er parallel zu seinen Stellen in Frankreich Vorlesungen. Bekannt wurde er vor allem durch sein 1950 auf Deutsch erschienenes Werk Vom Geist der mittelalterlichen Philosophie, Freiburg i. Br. 1950, das auf den „Vorlesungen über den Geist der mittelalterlichen Philosophie“ („L’Ésprit de la philosophie médiévale. Gifford Lectures“, Paris 1931/32) basiert, aus der wiederum Edith Stein in ihrem Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein“ zitiert (ESGA 11/12, 20).
Am Samstag, den 17.9., trat Edith Stein mit Rosenmöller die Rückreise an, zunächst bis Köln, wo sie bei Hedwig und Siegfried Spiegel Station machte, bevor sie am 18.9. nach Münster zurückkehrte.
Sr. Amata Neyer (1922-2019); Beate Beckmann-Zöller 2020
Neyer, Amata, „Edith Steins Studienreise 1932 nach Paris. Teil 1: Von Breslau nach Würzburg, ESJ 2005, Bd. 11, S. 31-65.
Neyer, Amata, „Edith Steins Studienreise 1932 nach Paris. Teil 2: Von Würzburg über Heidelberg nach Straßburg“, ESJ 2006, Bd, 12, S. 9-28.
Neyer, Amata, „Edith Steins Studienreise 1932 nach Paris. Teil 3: Juvisy“, ESJ 2007, Bd, 13, S. 9-48.
Neyer, Amata, „Edith Steins Studienreise 1932 nach Paris. Teil 4: Paris“, ESJ 2008, Bd, 14, S. 47-78.
[1] A-01-01.
[2] „Edith Stein und die Familie des Religionsphilosophen Bernhard Rosenmöller“, in: Herbstrith, Waltraud (Hg.), Erinnere dich – vergiß es nicht, Essen 1990, 277-282, 280.
[3] Vgl. Raïssa Maritain, Les grandes amitiés, Paris, Parole et Silence, 2000 ; 1. Auflage 1949.